Anthroposophie

Anthroposophie ist eine Erkenntnismethode, die von Rudolf Steiner (1861 – 1925) zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. In Rudolf Steiners Freier Hochschule für Geisteswissenschaft mit ihrem Zentrum am Goetheanum in Dornach (Schweiz) wird das, was in den alten Mysterien durch Initiationsprozesse erfahren wurde, in Form einer für das moderne Bewusstsein geeigneten Initiationswissenschaft wieder zugänglich. Eingegliedert in die moderne Zivilisation fördert sie ein brüderliches Zusammenleben aller Menschen und macht es möglich, auf den verschiedensten Lebensgebieten das Geistige und das Leiblich-Materielle harmonisch miteinander zu verbinden. Erkenntnis und Lebenspraxis greifen ineinander. Erste Keime der anthroposophischen Erkenntnismethode findet man bereits im Werk von Jakob Böhme, in Johann Wolfgang von Goethes wissenschaftlichen Arbeiten, bei Friedrich Schiller, sowie bei den auf Immanuel Kant folgenden Denkern des deutschen Idealismus.

Anthroposophie führt zur Erfahrung eines zweiten, seelisch-geistigen Menschen im Menschen. Dieser innere Mensch ist unbewusst in der Seele, im Schicksal und in allen Leibesprozessen des Menschen tätig. Seiner eigenen Natur nach ist er von den Bedingungen der materiellen Außenwelt und der leiblichen Organe ganz unabhängig. Der seelisch-geistige Mensch ist auf eine viel innigere und umfassendere Weise mit der Gesamtwirklichkeit verbunden, als das heutige Normalbewusstsein. Auch das selbstbewusste Denken trägt nur einen ganz schwachen Abglanz des Bewusstseins dieses zweiten Menschen in sich.

Durch die Erkenntnismethode der Anthroposophie wird der innere Mensch stufenweise ins heutige Bewusstsein hinaufgehoben. Von ihm ausgehend erschließen sich die verschiedenen Gebiete der geistigen Welt dem bewussten Erkennen. Wie der physische Menschenleib in den materiellen Kosmos eingegliedert ist, so der innere Mensch in die seelisch-geistigen Kräfte und Substanzen des Kosmos. Und wie durch die naturwissenschaftliche Methode die Vielfalt der materiellen Welt systematisch erforscht wird, so wird durch die Methode der Anthroposophie die übersinnliche Grundlage der Wirklichkeit in all ihren Differenzierungen ergründet.

Das naturwissenschaftliche Denken kann die wahren Ursachen und Kräfte, die der materiellen Welt zugrunde liegen, zunächst nicht erfassen. Das liegt daran, dass dieses Denken voraussetzt, dass diese Ursachen unabhängig vom menschlichen Inneren objektiv in der Außenwelt vorhanden sein müssten. In Wirklichkeit aber existieren sie nur in Verbindung mit dem inneren Menschen. Wer glaubt, dass die Ursachen des materiellen Daseins in der Außenwelt liegen, gleicht einem Menschen, der vor einem Spiegel steht und in der Spiegelfläche oder in dem Material des Spiegels die eigene Wirklichkeit sucht. Das Wesen der äußeren Erscheinungen kann wissenschaftlich nur ergründet werden, wenn man es in Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen betrachtet.

Die entsprechende Erkenntnismethode hat Rudolf Steiner in verschiedenen Schriften dargestellt. An dieser Stelle sei besonders das Buch „Die Philosophie der Freiheit“ (GA 4) hervorgehoben, sowie die Vorträge „Grenzen der Naturerkenntnis“ (GA 322). Außerdem sei auf die Schriften „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ (GA 10), „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (GA 12), „Kosmologie, Religion und Philosophie“ (GA 25), „Die Geheimwissenschaft im Umriss“ (GA 13) und Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst (GA 27) von Rudolf Steiner hingewiesen. Eine auf diesen Schriften aufbauende, weiterführende Schulung findet man in dem Lehrgang der Klassenstunden im Rahmen der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum.